Brasilien Spotlight: "Der Wendepunkt am Amazonas ist da, er ist jetzt"

Ricardo Arnt • 3 December 2020

Die Ausbreitung der Abholzung im Amazonasgebiet hat einen "Wendepunkt" erreicht, der in der Lage ist den regionalen Klimawandel auszulösen.

Brazilian journalist Ricardo Arnt

Seit Jahrzehnten spekulieren Wissenschaftler darüber, wie viel Abholzung der Amazonas-Regenwald verkraften kann, ohne seine natürliche Regenerationsfähigkeit und das Klima zu beeinträchtigen. Mitte November wird das brasilianische Nationale Institut für Weltraumforschung (INPE) die offizielle jährliche Entwaldungsrate im Amazonasgebiet für das Jahr 2020 bekannt geben, die laut Quellen höher sein soll als 2019. 


Etwa 19 Prozent des ursprünglichen Waldes sind bereits zerstört worden, und etwa 80 Prozent sind noch intakt. Doch das kontinuierliche Voranschreiten der Entwaldung bringt die Region immer näher an einen sogenannten "Wendepunkt", der den Süden des Amazonas in eine Savanne verwandeln könnte.


1991 führte der brasilianische Forscher Carlos Nobre eine berühmte Studie über die Auswirkungen der Abholzung des Regenwaldes durch. Mit einem Computerprogramm, das auf ein Klimamodell der Luftzirkulation und der Wolkenkondensation kalibriert war sowie mit einem repräsentativen Modell der tropischen Vegetation gekoppelt wurde, passte Nobre die Verhältnisse an, die auf die Region einwirkten, und analysierte die sich daraus ergebenden Szenarien.

Seine Studie zeigte, dass, wenn Wälder durch Weideland ersetzt werden, die Transpiration der Vegetation, ein Prozess, der Wasser aus dem Boden aufnimmt und es durch Verdunstung in die Atmosphäre zurückführt, um 30 Prozent reduziert wird; der Niederschlag um 25 Prozent sinkt und der Abfluss um 20 Prozent reduziert wird. Infolgedessen würde die Temperatur um 2,5ºC ansteigen, die Trockenzeit verlängert und die Regenerationsfähigkeit des Waldes beeinträchtigt, was zur Savannenbildung in der abgeholzten Region führen würde.


Mehrere Studien haben diese Hypothese untermauert. Ab 2005 wurde eine Übereinstimmung darüber erzielt, dass die Zunahme der Abholzung und die Verringerung der Waldtranspiration das landwirtschaftliche Kernland Südamerikas betreffen würde, das durch die "fliegenden Flüsse" des vom Amazonaswald erzeugten Regens bewässert wird. Die Auswirkungen würden fast den gesamten Subkontinent betreffen, mit Ausnahme von Chile, das durch die Anden gegen Feuchtigkeit abgeschirmt ist, was sich direkt auf die Wirtschaft Brasiliens, Argentiniens, Uruguays, Paraguays und Boliviens auswirken würde.



Im Jahr 2007 veröffentlichte Nobre eine weitere Studie, die von einem "Weitermachen-wie-gewohnt"-Szenario der künftigen Entwaldung ausgeht und darauf hinweist, dass bei Verlust von 40 Prozent des Waldes der "Wendepunkt" der klimatischen Grenze des natürlichen Funktionierens des Ökosystems näher rückt. Angesichts der kontinuierlichen Ausweitung der Entwaldung erregten Spekulationen über den "Wendepunkt" die Aufmerksamkeit der Medien, und deuteten ein mögliches "mehrfaches Organversagen" der verbleibenden Waldfragmente an.


Im Jahr 2018 veröffentlichten Nobre und der amerikanische Biologe Thomas Lovejoy eine gemeinsame Studie, in der sie feststellten, dass der "Wendepunkt" der hydrologischen Degradation angesichts der "Verschlechterung der negativen Synergien" zwischen Entwaldung und Klimawandel überprüft werden sollte Da die Brände im Osten, Südosten und Süden des Amazonas fortschreiten, würde der Wendepunkt des Ökosystems jetzt einem "20-25-prozentigen" Waldverlust entsprechen.


Die Entwaldung hat jedoch nicht aufgehört. Im Dezember 2019 veröffentlichten Nobre und Lovejoy einen düsteren Artikel mit dem Titel - Amazon Tipping Point: Letzte Chance zum Handeln - und erklärten, dass der Klimawandel die natürliche Dynamik der Region bereits verändert hat. "Der Wendepunkt ist da, er ist jetzt", schrieben sie. Beweise dafür seien heißere und längere Sommer, intensive Dürreperioden wie 2005, 2010 und 2015 und steigende Frühsterblichkeitsraten von Pflanzenarten.


Wenn die Wissenschaftler Recht haben und die Abholzung weiter zunimmt, könnte die am stärksten betroffene Region des Amazonas-Regenwaldes bereits auf dem Weg zum Zusammenbruch sein, was den Übergang zur Savanne beschleunigen würde. Dies würde nicht nur zu einem Verlust an biologischer Vielfalt führen, sondern das Klima für eine ganze Region verändern.



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